Polizeinotruf in dringenden Fällen: 110

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Die Beamten haben gelernt, Aggressionen ins Leere laufen zu lassen.
Im Angesicht der Provokation
Wir haben keine Glaskugel, um zu sehen, was passieren wird“, sagt Hundertschaftsführer Dirk Mäske am letzten Samstag im Mai. Bei der Einsatzbesprechung in der Polizeiinspektion 3 an der Venloer Straße weiß niemand genau, wie die Fans des 1. FC Köln auf den Ausgang des zweiten Relegationsspiels reagieren werden. Bis zum Anpfiff ist es noch eine Stunde. Die Bereitschaftspolizei ist gewarnt. Nach der abschließenden Bundesliga-Partie des FC, bei der der Traditionsclub gegen den Rivalen Schalke 04 zu Hause den sofortigen Abstieg verhinderte, gab es Ausschreitungen. Problemfans randalierten südlich der Arena, warfen mit Flaschen und zündeten Bengalos, Rauchtöpfe und Knallkörper. Zwei Polizisten wurden verletzt.
Streife-Redaktion

Seit der Neuorganisation der nordrhein-westfälischen Bereitschaftspolizei (BP) vor 25 Jahren hat sich viel getan. Geblieben ist die Fähigkeit, für ganz unterschiedliche Aufgaben schnelle Lösungen zu finden. An 14 Polizeipräsidien sind nun 15 Bereitschaftspolizeihundertschaften (BPH) angedockt. In Bochum, Wuppertal und Köln sitzen die Abteilungsführungen, die Technischen Einsatzeinheiten (TEE) und die seit 2018 geschaffenen Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaften (BFH). Aktuell sind rund 2.600 Beamtinnen und Beamte bei der BP. Wir haben einen typischen Einsatz begleitet. Der Teamgeist, das Spezialwissen und die vielen Verbesserungen bei Technik und Ausbildung sind beeindruckend.

Was ist in der Domstadt zu erwarten, wenn die Geißbock-Elf oben an der Ostseeküste die Klasse hält oder absteigen muss? Zwei Züge BPH aus Köln sowie eine Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaft wollen vor allem die City, das RheinEnergieStadion und das Clubhaus des FC im Auge behalten.

„Feiern gehört ja zur Kölner Brauchtumspflege“, stellt der aus Essen stammende Erste Polizeihauptkommissar Mäske in der Lagebesprechung fest. „Aus den sozialen Medien kommt die Aufforderung, die Stadt rot-weiß zu schmücken. Mal gucken, was das heißt.“ Gibt es „Randale“? Ein szenekundiger Beamter teilt mit, dass rund 300 bis 400 Kölner Ultras an die Ostsee gereist seien. Das könnte daheim auf einen eher friedlichen Ablauf hindeuten. Abwarten. Polizeioberrätin Mareike de Valck, als Inspektionsleiterin neu in Köln, leitet den Gesamteinsatz und wünscht der Runde beim Abschied viel Erfolg.

Um 18.30 Uhr hat sich die Bereitschaftspolizei mit einem Großteil der Kräfte am Hohenzollernring in der Nähe des „Betonautos“ versammelt. Offiziell heißt die Plastik von Wolf Vostell „Ruhender Verkehr“. Der Name entspricht der augenblicklichen „Nulllage“. Zwar führen inzwischen die Kölner in Schleswig-Holstein souverän und haben die erste Bundesliga für die kommende Saison praktisch schon gesichert, doch noch sind keine Fans in Sicht.

Wir haben Zeit, mit den Beamten darüber zu sprechen, warum sie zur Bereitschaftspolizei gegangen sind, wie sie ihre Aufgabe betrachten und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Hundertschaftsführer Mäske ist bereits ein Veteran. Der 59-Jährige fing als Wachtmeister vor fast vier Jahrzehnten bei der Polizei an. Im September 1991 kam er nach Köln und ist dort hängengeblieben. Zumeist war er in verschiedenen Funktionen bei der Bereitschaftspolizei beschäftigt, auch nach dem Wechsel in den gehobenen Dienst.

„Das Früher ist eigentlich überhaupt nicht mit dem Heute zu vergleichen“, weiß der Vater von zwei erwachsenen Kindern. „Zum Einsatzanzug gehörte damals zum Beispiel ein leicht entflammbares ockerfarbenes Sommerhemd. Das Funkgerät war ein Riesenapparillo. Überhaupt war die technische Ausstattung vorsintflutlich, wenn man überlegt, was jetzt alles so möglich ist. Ständig waren wir im Land unterwegs zu irgendwelchen Einsatzlagebesprechungen. Es war eben eine andere Epoche. An Videokonferenzen war noch gar nicht zu denken.“

Erlebt hat Dirk Mäske eine Menge. Besonders erschüttert hat ihn der Einsatz 1993 in Solingen, als bei einem von Neonazis gelegten Brandanschlag auf das Zweifamilienhaus der Familie Genc fünf Menschen ums Leben kamen. „So etwas vergisst man nicht“, sagt Mäske.

Jahrelang begleitete der Beamte die Castor-Transporte nach Gorleben. Auch diese Erinnerung sitzt tief. Aus ganz Europa seien die Protestierer gekommen. Tausende hätten die Gleise blockiert, sich angekettet und versucht, die Einlagerung des radioaktiven Materials in das Zwischenlager mit aller Macht zu verhindern.

„Wir haben die Leute immer wieder wegtragen müssen. Da gab es keinen Anfang und kein Ende“, berichtet er. Seine längste Schicht dort hat 36 Stunden gedauert. „Das war unheimlich belastend. Aber auch immer ein Familientreffen, bei dem man mit den Bereitschaftspolizeikollegen aus den anderen Bundesländern zusammenkam. Da denkt man auch an viel Schönes zurück.“

Großeinsatztage sind die in Deutschland stattfindenden G7-, G8- und G20-Gipfel gewesen. Mäske erinnert sich besonders an Heiligendamm 2007 und Hamburg 2017. „Da war der Widerstand schon extrem.“ Natürlich habe man auch da versucht, so weit wie möglich zu deeskalieren.

Nehle Brink gehört zur jungen Generation. Sie kam 2014 nach einem Jahr Wach- und Wechseldienst zur BP nach Köln. „Ich wollte Einsatzerfahrung sammeln“, begründet die heute 31-Jährige den Schritt. „Von Jahr zu Jahr habe ich diesen Job immer mehr lieben gelernt, weil ich mich durch zusätzliche Aufgaben verwirklichen kann.“ Mittlerweile liegen eine Schwangerschaft und die Geburt ihres Sohnes vor eineinhalb Jahren hinter ihr. Jetzt arbeitet sie Teilzeit – wie ihr ebenfalls in Köln bei der BP tätiger Partner. Obwohl beide bei der Bereitschaftspolizei sind, ist die Arbeit gut mit dem Familienalltag vereinbar.

Die Begleitung von Demonstrationen und Fußballspielen gehört zum Alltag, der durch die Pandemie modifiziert wurde: Mehr Querdenker, weniger Sportfans haben die Agenda der vergangenen Monate bestimmt. Natürlich auch die Einsätze am Hambacher und Dannenröder Forst, bei denen der Braunkohleabbau im Rheinland und eine längst beschlossene Autobahn in Hessen verhindert werden sollten.

Polizeioberkommissarin Brink wird häufig als Verbindungsbeamtin bei Versammlungen eingesetzt. „Bei Demos halte ich Kontakt zum Versammlungsleiter.“ Die verantwortliche Person könne dann jederzeit zu ihr kommen und ihr Anliegen besprechen. „Die Kommunikation kann schon mal schwierig sein. Grundsätzlich ist man froh, dass wir da sind. Wir tragen zur Entspannung bei. Eine gute Kommunikation ist hier entscheidend für den Einsatzerfolg.“ Einige müssten erst überzeugt werden, dass die Polizei einen ehrlichen Dialog will. „Das ist für uns zentral. Wir haben eine Kooperationspflicht.“

Ihr Beruf und was man noch optimieren könnte, beschäftigt Nehle Brink. Sie engagiert sich in der Arbeitsgruppe „Resilienz“, die die Vorbereitung und den Umgang mit besonders belastenden Einsatzlagen und die Stressbearbeitung im Nachgang zum Thema hat. Sie vermittelt Kollegen überdies Kontakte zu den Fachdienststellen. Die junge Mutter arbeitet zudem in der AG „Wertekultur“ mit. Sie wird geschäftsführend vom Zugführer Timo Christ geleitet. Der 46-Jährige versucht, mit den Teilnehmern zu ergründen, inwieweit harte und konfrontative Einsätze das persönliche Weltbild verändern können. „Wir wollen den Kollegen die Möglichkeit geben, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Kernziel ist die Sensibilisierung jedes Einzelnen“, erläutert der Polizeihauptkommissar.

Der weibliche Anteil bei der Bereitschaftspolizei in NRW ist im vergangenen Vierteljahrhundert stark angestiegen. Momentan dürfte er schon bei rund 30 Prozent liegen. Zu den starken Polizistinnen gehört auch Nathalie Ickenroth. Seit 2012 ist die Polizeioberkommissarin in der Hundertschaft, seit 2014 bei den Spezialisten der BeSi (Beweissicherung). „Mit unseren Kamera- und Videoaufnahmen leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Identifizierung von Straftaten und Straftätern“, sagt die 34-Jährige.

Sie macht Rückentraining, um fit zu bleiben. Die volle Ausrüstung wiegt etliche Kilos, die in einigen Einsätzen auch über eine Dauer von mehreren Stunden getragen werden muss. Hinzu kommt dann noch das Equipment für die Beweissicherung. Der Anteil an Fortbildung ist hoch. Nathalie Ickenroth schätzt die Vielseitigkeit der Bereitschaftspolizei. „Man kann sich in vielen verschiedenen Bereichen weiterentwickeln.“

Auf ihrem Kamerasektor schreitet die Entwicklung besonders rasch voran. „Früher gab es nur eine Lichtbildmappe, heute haben wir unzählige hochauflösende Bilddateien“, so die Beamtin. Das verbessere die Zugriffschancen enorm – gerade bei Straftaten aus einer großen Menschenmenge heraus. „Sogar nachts sind wir nicht aufgeschmissen. Wir leuchten mittlerweile unsere Einsätze sehr gut aus.“

Die neue Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) führt Dennis Ardischoll an. Den 40 Jahre alten Sauerländer hat es gereizt, in Köln die BFE-Kräfte mit aufzubauen. Im September vorigen Jahres ist er von der 14. Hundertschaft in Köln zu der neu aufgestellten Einheit gewechselt. „Wir sind in der Lage, auch mit einer massiven und aggressiven Klientel fertigzuwerden“, konstatiert er. Zur Strategie gehöre, kein Öl ins Feuer zu gießen. „Störer oder gesuchte Personen nehmen wir möglichst so fest, dass ihr Umfeld nichts davon mitbekommt.“

Dass jetzt Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten auch in Nordrhein-Westfalen – wie längst in anderen Bundesländern – zur Verfügung stehen, hält der Polizeihauptkommissar für einen Fortschritt. „Wir werden intensiv für herausfordernde Einsatzlagen geschult und erweitern so die Handlungsmöglichkeiten.“

Zum Programm gehören das schnelle und geräuschlose Durchsuchen von Objekten, Räumungen und Razzien. Wer die Polizei aufmischen will, hat von der internationalen Protestbewegung gelernt und arbeitet mit vielfältigen Methoden. „Darauf müssen wir adäquat antworten.“ Für heute ist Ardischoll optimistisch: „Viel wird wohl nicht passieren.“

Die TEE – mit Wasserwerfern, Drohnen, Booten und manchem mehr bestückt – sind deshalb gleich zu Hause geblieben. Ganz ohne Zwischenfälle läuft der heutige Einsatz dann aber doch nicht ab: Ab 20.0 Uhr strömen die FC-Fans in die Stadt und fahren im Korso über die Kölner Ringe. Ab 20.30 Uhr fliegen die ersten „Böller“, deren Lärm in den Ohren schmerzt. Angetrunkene Ultras brüllen in Richtung der Einsatzkräfte, die nun die Helme aufsetzen und in Kolonne auf die Provokateure zumarschieren. Sie drängen am Hohenzollernring etwa 50 Männer und Frauen, viele in den Trikots ihres Lieblingsvereins, in die Ehrenstraße ab und auseinander. Noch gilt die Corona-Schutzverordnung.

In drei Fällen erstattet die Polizei Anzeige, nachdem die Beamten beleidigt worden sind. Zwei Tatverdächtige im Alter von 27 und 47 Jahren werden wiedererkannt. Sie sollen am letzten Bundesligaspieltag Glasflaschen geworfen haben. Einer leistet bei der Feststellung seiner Personalien Widerstand und wird in Gewahrsam genommen. Ein Polizist verletzt sich leicht.

Gegen 23,00 Uhr versammelt sich noch einmal ein rot-weißes Trüppchen vor dem Geißbockheim des FC. Die Bereitschaftspolizei erteilt Platzverweise. „Die sind sauer, dass wir sie nach Hause geschickt haben“, konstatiert Hundertschaftsführer Dirk Mäske. „Am Ende ist das Ganze Gott sei Dank keine große Sache gewesen“, resümiert er.

Auch Polizeioberkommissarin Nehle Brink ist zufrieden. Sie hat schon deutlich mehr Tumult erlebt. „Aber wir passen immer aufeinander auf“, sagt sie. „Ich habe mich bei unseren Einsätzen noch nie unsicher gefühlt.“

Ein kleines Nachspiel für den 1. FC Köln gab es noch. Ein Streifenteam wurde um 3.00 Uhr nachts in die Makara-Bar im Stadtteil Bickendorf gerufen. Teile der Mannschaft und des Managements sowie einzelne Betreuer feierten dort den Klassenerhalt. Ein Polizeisprecher teilte mit, dass gegen alle Anwesenden und den Lokalbetreiber ein Verfahren wegen Verstoßes gegen die Corona-Schutzverordnung eingeleitet wurde. Kölns Geschäftsführer Alexander Wehrle entschuldigte sich für die Party bis zum frühen Morgen. „Wir sind unserer Vorbildfunktion nicht gerecht geworden.“ Als die Fete aufgelöst wurde, war der Einsatz der Bereitschaftspolizei bereits zu Ende.

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